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Reise auf die Insel der Toten

Arnold Böcklins Bild Die Toteninsel zählt ohne Zweifel zu den berührendsten Kunstwerken, die sich mit dem Tod oder der Sehnsucht danach auseinandersetzen. Und so ist es mehr als folgerichtig, dass dieses Bild am Anfang des Films von Jan Schmitt steht. Denn der freiwillige Tod seiner eigenen Mutter vor elf Jahren und die Suche nach den Gründen stehen im Mittelpunkt eines zutiefst bewegenden Films, der zugleich ein wehmütiges Requiem, ein zärtlicher Nachruf und eine wütende Anklage ist. 

Basierend auf den Tagebuchaufzeichnungen seiner Mutter und mit Hilfe vieler Gespräche mit Verwandten und Freundinnen begibt sich Schmitt auf die Suche nach den Wurzeln für die lebenslange Todessehnsucht seiner Mutter Mechthild und fördert Entsetzliches zutage. Zunächst stellt sich heraus, dass ein katholischer Pater – offenbar mit stillschweigender Billigung der Eltern – das Mädchen sexuell missbraucht, „sie wurde geopfert“, so formuliert es eine Freundin der Mutter. Später wird das Kind, mittlerweile 16 Jahre alt, eilig und unter mysteriösen Umständen, in das Jugenddorf Klinge gesteckt. Früh heiratet die junge Frau, doch die Ehe, aus der drei Kinder hervorgehen, hält nur zehn Jahre. Immer wieder leidet sie unter Depressionen und entsetzlichen Migräneattacken. Erst eine Therapie bringt später Gewissheit über die verdrängten Verbrechen, die ihr das Leben zu einer lebenslangen Hölle machten. Als sich zum Schluss bei einer Therapiesitzung auch noch herausstellt, dass Mechthild als kleines Kind auch von ihrem eigenen Vaters vielfach missbraucht wurde, ist dies endgültig zu viel für die sowieso schon labile und traumatisierte Frau, die sich wieder einmal allein den Dämonen der Vergangenheit ausgeliefert fühlt: Mit Tabletten setzt sie im Februar 1996 ihrem Leben ein Ende - nach dem Krebstod ihres zweiten Mannes vier Jahre zuvor hat sie endgültig keine Kraft mehr Sie wird aufgefunden, als habe sie sich selbst aufgebahrt, die Haare sind ordentlich gekämmt, die Lippen geschminkt. In einem Abschiedsbrief grüßt sie noch einmal all jene, die sie zurücklässt. Weil sie diese letzte Reise alleine antreten muss. 

Wäre nicht der melancholische Grundton, die poetische Haltung, die eindringlichen Stimmen (unter anderem sprechen Susanne von Borsody und August Diehl), die Musik – neben der Klavierbegleitung bleibt vor allem ein Song von Element of Crime in Erinnerung, der von Meret Becker interpretiert wird – , mit der Schmitt seine aufwühlende Recherche gestaltet und sehr berührend in Szene gesetzt hat, wäre das, was Schmitt erzählt kaum zu ertragen. Und wie man vermuten kann, war dies auch die einzige Möglichkeit für den Filmemacher selbst, sich an das Unglaubliche – den Freitod der eigenen Mutter – und an die noch viel unglaublicheren Gründe für diesen Suizid heranzuwagen. So aber schwebt über diesem ruhigen und doch so couragierten Film von der ersten Einstellung an eine Sehnsucht nach einer Geborgenheit, die schon immer auf einem wackligen Fundament aufgebaut war. 

Auch wenn Jan Schmitts aus vielen verschiedenen Quellen zusammenmontierter Film an die Nieren geht und aufrüttelt, übt er auf der anderen Seite einen solchen Sog aus, dass man sich ihm nicht entziehen kann. Ohne Förderung gedreht ist dieser Film kein "großer" Film. Aber ein sehr, sehr wichtiger, dem man wünscht, dass er sich auf seine stille und leise Art ein möglichst großes Publikum erobert.
(Joachim Kurz)

Januar 2009 auf ttp://www.kino-zeit.de/filme/artikel/11127_wenn-einer-von-uns-stirbt-geh-ich-nach-paris.html

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