19.09.2021 um 17:30 Uhr Recherchebericht bei Fokus: Dokumentarfilm
Die Frauen von der Schokoladenfabrik Dokumentarfilm von Orhan Çalışır
Anfang der 1970er Jahre kam eine größere Gruppe türkischer Frauen als Gastarbeiterinnen in die Bremer Schokoladenfabrik Hachez. Junge Frauen, die alleine ins Ausland gingen. Es geht um die Geschichte dieser Frauen, die heute mit ihren Kindern und Enkelkindern in Bremen leben.
Es war sehr ungewöhnlich, dass die Frau die Rolle des Mannes, des Familienernährers übernimmt und arbeiten ging. Noch viel ungewöhnlicher war es, dass die Frau oder die Tochter des Hauses in ein fremdes und sehr entferntes Land ging, um zu arbeiten und für die Familie zu sorgen.
Nach den medizinischen Untersuchungen vor der Anwerbung machten sich Birnaz, Hayat, Feriha, Dursiye, Halise mit dem Zug, später auch mit dem Flugzeug auf dem Weg nach Deutschland. Das ist eine Gruppe von Frauen, die zu der Schokoladenfabrik Hachez in Bremen kommen sollten. Am Hauptbahnhof München, wo alle Gastarbeiter:innen aus verschiedenen Ländern ankamen, gab es eine Halle, eine Art Umschlagplatz. Von dort aus wurden sie in die Züge verteilt, die sie in die verschiedenen Städte und Fabriken der BRD brachten.
Manche der Frauen waren sehr jung, wie die damals 16-jährige Dursiye Gedikli. Sie hatte die Identität ihrer drei Jahre älteren und verstorbenen Schwester angenommen. Manche Frauen ließen ihre Kinder zurück. Hayat Demirkapıs Tochter war noch kein Jahr alt, als ihre Mutter am 16. November 1973 in Istanbul ins Flugzeug stieg, um nach Bremen zu kommen. Das war das Schlimmste, sagt Birnaz Kaya, die 1970 zur Hachez kam. „Wenn sie mir nicht den Pass abgenommen hätten, wäre ich abgehauen und zurückgekehrt. Glaube mir, das hätte ich gemacht, wegen meiner Kinder“ sagt die heute 82-jährige.
Die jungen Arbeiterinnen wohnten in Heimen der Firma, die in Bremen-Neustadt verteilt waren.
Jetzt sind sie alle in Rente. Manche haben sich kaputt gearbeitet und sind nach vielen Auseinandersetzungen mit den Versicherungsanstalten früher in die Rente gegangen. Heute kümmern sie sich um ihre Enkelkinder, geben ihnen jene Liebe, die sie den eigenen Kindern nicht geben konnten. Und sie leben halb in Bremen und halb in der Türkei. Mittlerweile haben sie zwei Heimatländer.
Es geht darum, die Geschichte dieser Frauen so authentisch wie möglich zu erzählen. Am besten denen die Möglichkeit geben, dass sie ihre Geschichten uns erzählen können. Jenseits des Integrationsdiskurses, der diese Menschen vornerein zu Personen degradiert, die im besten Fall eine Zivilisationsnachholbedarf haben.
Jurybegründung: Die Schokolade ist bekannt, die Geschichte der Frauen, die seit 50 Jahren an ihrer Herstellung beteiligt waren und sind, kaum. Die Frauen in der Schokoladenfabrik möchte den Lebensläufen dieser Migrantinnen nachspüren. Ihre Erzählungen und Perspektiven festzuhalten, ihnen Stimme und Gesicht zu geben, erscheint uns wichtig, als Stück Bremer und deutscher Nachkriegsgeschichte.
Recherchebericht im Rahmen des LET‘S DOK Aktionstages 2021
Radio Feature Oktober 2021 von Lars Schweinhage und Orhan Çalışır: www.bremenzwei.de/audios/feature-almanya-102.html