Einleitung zur Ausstellung
Einleitung zur Ausstellungseröffnung durch Ingo Clauss, Kurator am Neuen Museum Weserburg.
Beginnen möchte ich mit einer kurzen Anekdote. Vor ungefähr einem Jahr hatte ich das Vergnügen, zusammen mit Peter Friese Christoph Keller in seiner Berliner Wohnung zu besuchen. Wir haben seinerzeit die Ausstellung „Say it isn’t so. Naturwissenschaften im Visier der Kunst“ vorbereitet. Im Laufe unseres damaligen Gesprächs zeigte uns der Künstler die ersten Bilder einer neuen Videoarbeit. Zu sehen waren in kurzer Folge Ausschnitte aus verschiedenen Spielfilmen. Sie zeigten alle eine ähnliche Situation, in der eine Person im Begriff war, hypnotisiert zu werden. Peter Friese und ich schauten gebannt auf den Bildschirm. Als wir uns einige Zeit später voneinander verabschiedeten und das Haus verließen, beschlich uns beide das Gefühl, dass wir wohl selbst in einen tranceähnlichen Zustand versetzt worden waren. Sei es durch die Filmszenen, sei es durch die ruhige und eindringliche Stimme des Künstlers oder gerade die Kombination aus beidem. Diese Einschätzung muss nicht völlig abwegig sein. Christoph Keller hat sich in den vergangenen Jahren eingehend mit Hypnose beschäftigt. Er nahm Unterricht bei einem Hypnotiseur, wurde selbst hypnotisiert und hat schließlich auch andere Personen in eine hypnotische Trance versetzt.
In seiner künstlerischen Arbeit umkreist er seitdem immer wieder dieses Thema. Neben einer von ihm produzierten Radiosendung mit dem Titel „Radiohypnose“ und der Arbeit „Visiting a Contemporary Art Museum under Hypnosis“ ist nun das „Hypnosis Film Project“ entstanden. Was bereits auf einem kleinen Monitor eine sprichwörtlich hypnotische Wirkung zu entfalten vermochte, präsentiert sich nun als wandfüllende Projektion. Ihr gegenüber stehen in zwei Reihen bequeme Sessel, die uns von Kinosälen vertraut sind und zum Platz nehmen einladen. Die aneinander gereihten Sequenzen entstammen einem Archiv mit Hypnose-Filmszenen, das der Künstler eigens angelegt hat. Christoph Keller arbeitet hier als cinematografischer Archäologe. Er übernimmt also Aufgaben, die eigentlich die Kernkompetenzen von Museen und Archiven sind: Das Sammeln, Bewahren und Forschen. Die Früchte der langwierigen Recherche, die präzise Inventarisierung der einzelnen Sequenzen und auch die inhaltliche Analyse werden allerdings nicht nach wissenschaftlichen Kriterien ausgebreitet. Das Archiv der Filmhypnosen dient vielmehr als Ausgangspunkt einer besonderen Form künstlerischer Aneignung. Christoph Keller montiert die einzelnen Filmhypnosen, die er nicht weiter bearbeitet, zu einem eigenen Videofilm. Der Aufbau des Films orientiert sich dabei am Verlauf einer Hypnose. In der Filmgeschichte haben sich hierfür visuelle und narrative Stereotypen ausgebildet.
Der effektvolle Einsatz von Pendeln und blinkenden Lichtquellen oder auch das Schnipsen mit den Fingern, gefolgt vom direkten Augenaufschlag des Probanden, sind solche gemeinverständlichen Codes.
Viele bedeutende Filmemacher haben sich mit Hypnose auseinandergesetzt. Darunter auch der dänische Regisseur Lars von Trier. Zu diesem Thema befragt, äußerte er sich in einem Interview wie folgt: „Hypnose und Film liegen nah beieinander. Das ganze Drumherum, wenn man im Kino ist, ist sehr ähnlich einer Situation, in der man hypnotisiert wird: das Licht, das langsam ausgeht, die Konzentration, alles, was stört, sollte außerhalb bleiben, in der Trance genau wie im Kino. Es liegt auf der Hand, eine Parallele zu ziehen. Speziell, wenn man einen Film mit einem Erzähler sieht, ist man sehr nah dran an der Technik des Hypnotisierens.“ Eben diese Ähnlichkeit im methodischen Ansatz von Film und Hypnose werden im „Hypnosis Film Project“ untersucht. Letztlich beeindruckt die Arbeit aber nicht allein durch die Präzision, mit der sie uns komplexe Zeichensysteme und inszenierte Klischees der Filmindustrie vorführt. Ihre Qualität liegt meines Erachtens in zwei gegenläufigen Bewegungen. Wenn uns beispielsweise die riesenhaften Augen des Hypnotiseurs fixieren, wird Kino als bewusstseinsverändernde Suggestionsmaschinerie direkt erlebbar. Wir werden förmlich in das Bild, wie in eine Trance hineingezogen. Gleichzeitig bewahrt uns die harte Schnittfolge davor, in den Film gänzlich einzutauchen. Man wird immer wieder aus dem Bild geworfen. In dieser ambivalenten Situation entsteht ein ungewohnter Erfahrungsraum, der es uns, dem Zuschauer ermöglicht, die Bedingungen unserer eigenen Wahrnehmung zu reflektieren.
Unsere Wahrnehmung, überhaupt etwas „für wahr nehmen“ spielt auch in der Arbeit „Sonar [Space]“ von Angelika Middendorf ein bedeutende Rolle. Sie schickt den Betrachter auf eine Reise durch vielschichtige Sound- und Bildlandlandschaften. In einer ersten Annährung an ihre eigene Arbeit schreibt sie: „Nobody travels in search for the enigma of existence... Niemand reist auf der Suche nach dem Enigma der Existenz... mit wechselnder Identität... in körperloser Hochgeschwindigkeit... durch die vierte Dimension... durch Datenströme und Signaturen von den Lebenden und Nichtlebenden aus Über- und Unterwasserwelten...“.
Für die Reise ins Unbekannte hat Angelika Middendorf eine Sitzplattform bereitgestellt. Sie ist mit einem zart rosafarbenen, thermoelastischen Schaumstoff überzogen, der im Rahmen eines NASA-Raumfahrtprogramms entwickelt wurde. Das Material reagiert bereits auf leichten Druck und Wärme, wodurch es sich dem Körper in idealer Weise anpasst und so das Gewicht des eigenen Körpers vergessen macht. Von hier aus können wir uns schwerelos auf die Bild- und Soundcollage einlassen. In rasanter Schnittfolge und aus wechselnden Perspektiven ziehen die Bilder von riesigen Radioteleskopen an uns vorüber. Gleichzeitig umgibt uns ein geräuschvolles Dröhnen, Zierpen und Fiepsen. Unterschiedliche Soundebenen scheinen sich zu überlagern, enden abrupt, um unvermittelt in einer anderen Frequenz und Lautstärke wieder einzusetzen. Den Sounds liegen so genannte Sonarsignaturen zu Grunde. Das Sonar ist ebenso wie ein Radioteleskop ein Instrument, mit dem sich Objekte lokalisieren und darstellen lassen, die sich unserer unmittelbaren Wahrnehmung entziehen. Die Geräusche von Tornados und Wasserbeben wie auch von Delphinen und anderen Meeresbewohnern ergeben auf diese Weise ein irisierendes Klangbild. Darin hineingesprochen hören wir aus dem Off die Stimme einer Person, deren Identität permanent zu wechseln scheint. Die Sätze entstammen mit wenigen Ausnahmen den US-amerikanischen Science-Fiction Filmen „Matrix“ und „2010 – Das Jahr, in dem wir Kontakt aufnehmen“. Unsere Kontaktaufnahme wird jedoch erheblich erschwert. Das englische Originalzitat ertönt gleichzeitig mit seiner deutsche Übersetzung, was ein Verstehen streckenweise kaum möglich macht. „How do you define real?“ „Wie definiert man Wirklichkeit?“, „What are you waiting for?“ „Worauf wartest du?“
Die Filmaufnahmen entstanden im amerikanischen Bundesstaat New Mexiko. In den siebziger Jahren wurde dort das Very Large Array gebaut. Es handelt sich um eine beeindruckende Ansammlung von 27 beweglichen Radioteleskopen, mit denen sich astronomische Phänomene beobachten lassen. Die hohe Empfindlichkeit der Instrumente bietet Astrophysikern ideale Voraussetzungen für ihre Forschungen.
Noch heute ist die Anlage das weltweit größte Observatorium seiner Art. In der unwirtlichen Wüstenlandschaft erinnert das Areal an die überdimensionierten Projekte der Land Art. Und es mag kein Zufall sein, dass sich unweit der Großanlage das berühmte „Lightning Field“ von Walter de Maria befindet.
Wie eine Anthropologin begibt sich die Künstlerin in ein ihr fremdes Feld der Hochtechnologie. Ihrem Projekt sind zwar zahlreiche Recherchen und Interviews mit Astrophysikern und Ozeanologen vorausgegangen und selbst ein enger Kontakt zur europäischen Weltraumagentur ESA konnte geknüpft werden, doch letztlich bleibt uns ein Einblick in die aktuelle Forschung verwehrt. Die Kamera der Künstlerin verfolgt stattdessen das permanente Neuausrichten der Radioteleskope. Sie zeigt die Schönheit der technischen Gerätschaften, die im Weltall einen Empfangspunkt suchen, der vielleicht neue Daten und Erkenntnisse liefern könnte. Doch was
haben wir davon, wenn uns diese Informationen nicht zugänglich, vermutlich noch nicht einmal verständlich sind? „Meaning of last transmission: unknown“. Das Nicht-Verstehen sollte uns jedoch nicht deprimieren. Als eine besondere Form des Verstehens markiert es genau den Punkt, an den sich Künstler wie Wissenschaftler immer wieder heranwagen, um uns Einblicke in bislang unbekannte Regionen des Wissens zu erschließen. Dass diese nicht immer weit entfernt liegen müssen, zeigt Angelika Middendorf in der Schlusssequenz des Videoloops. Wir sehen ein Radioteleskop, das sich an einer vertikal verlaufenden Mittelachse spiegelt. Wie in einem Kaleidoskop schieben sich die Parabolantennen zusammen und erzeugen in einem metaphorischen Bild eine direkte Rückkopplung. Der Blick ins Unbekannte wird hier zu einem Blick auf uns selbst. „The end begins in the middle. At the end starts the beginning.“ „Das Ende beginnt in der Mitte. Am Ende beginnt der Anfang.“
Zwischen den Installationen von Angelika Middendorf und Christoph Keller sehen wir die Arbeit von Harald Busch: „Tapezierer 2“. Die 2-Kanal Videoinstallation besteht aus einem freistehenden Wandstück, das die Ausstellungsfläche in einen vorderen und einen hinteren Bereich unterteilt. Dem Besucher wird folglich der Weg wie auch der Blick auf das Dahinterliegende verstellt. Dieser architektonische Eingriff in die räumliche Situation des Kunstvereins könnte als eine trennende oder abwehrende Geste verstanden werden, sie enthält aber auch eine Einladung an unsere Neugier, die Wand zu umschreiten und die Arbeit von der anderen Seite in Augenschein zu nehmen. Dies ist auch erforderlich, denn Harald Busch benutzt beide Seiten ganzflächig als Projektionswand. Im deutlichen Gegensatz zu den technoiden Klang- und Bildwelten von „Sonar [Space]“ wird uns hier eine ganz alltägliche Tätigkeit vorgeführt: die des Tapezierens. In Lebensgröße klebt ein Mann eine Tapete nach der anderen an die Wand. Er arbeitet lautlos und ganz ohne Hast. Jede Papierbahn wird dabei passgenau an die vorangegangene angefügt, solange bis die gesamte Fläche mit den Ornamenten der Mustertapete überzogen ist. Der Handwerker verlässt daraufhin unser Blickfeld, um auf der anderen Seite die gleiche Prozedur fortzusetzen. Ungeachtet der Tatsache, dass die Rückseite der Wand bereits tapeziert ist, überklebt er sie mit einer neuen Schicht.
In den letzten Jahren hat Harald Busch unter Verwendung von Tapeziertischen und Tapeten mehrere ungewöhnliche Kunstwerke geschaffen. Zwei davon möchte ich uns in Erinnerung rufen. 2006 hat er im Kleingärtnerverein Kornblume ein Gartenhaus vollständig mit Raufasertapete beklebt und mit weißer Fassadenfarbe überstrichen. Die gesamte Außenfassade, Fenster, Türen und selbst das Dach wurden mit einer dünnen weißen Papierhaut überzogen. Es scheint so, als hätte sich das Innenleben des Hauses nach außen gestülpt. Bereits zwei Jahre zuvor hatte er in einer Bremer Wohnung alle Wände, einschließlich aller Objekte mit Raufasertapete verkleidet. Heizkörper, Lichtschalter, Türen und Fenster waren nicht mehr zu benutzen. Ein radikaler Eingriff, der einen von der Außenwelt hermetisch isolierten Raum entstehen lässt. Alle Spuren der Vormieter, einfach alles, was eine Wohnung Geschichte atmen lässt, wurde unter einer gleichmäßig weißen Schicht erstickt. Während das Gartenhaus noch eine gewisse Komik in sich trägt, schafft die tapezierte Wohnung eine absolut beklemmende Atmosphäre.
In vielen seiner Werke schafft Harald Busch mit zum Teil einfachen Mitteln neue Raumkonstellationen, die der Betrachter erst durch das physische Durchschreiten nachvollziehen kann. Darin besteht eine gewisse Verwandtschaft zu den frühen Vertretern der Minimal Art, die in ihren Grundkonzepten von „presence“ und „place“ den Umraum ebenso wie die Gegenwart des Betrachters mitgedacht haben. In diesem Sinne verlangt die Arbeit „Tapezierer 2“, dass wir um das Wandstück herumgehen. In der Endlosschlaufe des Videoloops folgen wir also dem Tapezierer auf seinem unabänderlichen Weg. Die Erfahrung von Zeit spielt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung. In der kaum erträglichen Redundanz der Bilder, zeigt sich die ganze Tragik des Dargestellten. Die Tapete wird dabei zu einem vielschichtigen Bedeutungsträger. Jede neuen Lage bedeutet ein mehr an Material, doch ein weniger an Lebenszeit, ohne dabei auch nur ein Stück vorangekommen zu sein. Ein eindrückliches Sinnbild der Vergänglichkeit und Leere. Man fühlt sich unweigerlich an das Absurde Theater eines Samuel Becket erinnert. Doch wie in seinem bekanntesten Stück wird Godot auch hier nicht kommen. Das ewige Verharren in der selben Tätigkeit wird zu einem Teufelskreis, aus dem es auszubrechen gilt, wenn man nicht alle Hoffnung fahren lassen will.
So unterschiedlich die Arbeiten von Christoph Keller, Angelika Middendorf und Harald Busch auch sein mögen, gemeinsam ist ihnen, dass sie den Betrachter in besondere Wahrnehmungssituationen versetzen. Sie schaffen künstlerische Versuchsanordnungen, in denen wir uns als Probanden eines neuen Sehens frei bewegen können. Dabei wünsche ich ihnen jetzt viel Vergnügen!
Ingo Clauß
Kurator in der Weserburg | Museum für moderne Kunst