Filmkritik von Martina Burandt

Heute in der Schauburg: Jan Schmitts Dokumentarfilm „Wenn einer von uns stirbt, geh ich nach Paris“ erzählt von erschütternden Familiengeheimnissen

Was sind das bloß für Leute?

Alle zwei Minuten wird in Deutschland ein Kind sexuell missbraucht. 300.000 sind es jährlich nach Schätzungen des Bundeskriminalamtes. Viele Fälle bleiben unentdeckt. Und auch bei Fällen, die im Zusammenhang mit Vertretern der Kirche stehen, scheint das Schweigen immer noch das höchste Gebot, klagt Jan Schmitt im Abspann seiner Dokumentation über einen höchstpersönlichen Fall, nämlich die erschütternden Geheimnisse seiner eigenen Familie.

Aufhänger ist der Freitod seiner Mutter, Mechthild Schmitt, im Februar 1996 im Alter von 53 Jahren.
„Jede Familie hat ein Geheimnis, in meiner ist es der rätselhafte Tod unserer Mutter.“, erzählt der in Berlin lebende und als Fernsehjournalist arbeitende Filmemacher. Der Selbstmord seiner Mutter hat die Familie bis heute im Griff, auch 11 Jahre danach. „Die Vergangenheit ist nicht vergangen solange wir schweigen.“, sagt Jan Schmitt. Sein Film ist der Beginn einer schwierigen Aufräumarbeit. Drei Jahre war er mit der Produktion seiner autobiographischen Dokumentation, die er aus eigenen Mitteln bestritt, beschäftigt.

Dafür fuhr er an die Originalschauplätze der Vergangenheit seiner Mutter, in Deutschland, Frankreich und in der Türkei, um dort mit Verwandten, und ehemaligen Freunden zu sprechen.
Die Tagebücher der Mutter immer in greifbarer Nähe, kommt er von Ort zu Ort, von Gespräch zu Gespräch, dem Geheimnis immer mehr auf die Spur. Und obwohl Fragen offen bleiben, muss Jan Schmitt schließlich feststellen, dass die Geschichte seiner Mutter mehr mit ihm selbst zu tun hat, als ihm lieb ist.

„Was sind das bloß für Leute, die mich in meiner Kindheit in dieser Weise verraten und verkauft haben?“, heißt eine Frage aus Mechthild Schmitts Tagebuch, gelesen von der Schauspielerin Suzanne von Borsody. „Diese Leute“ sind scheinbar ganz normale Eltern, die wegschauten, als ihre Tochter im Alter von neun Jahren wiederholt von einem befreundeten Jesuitenpater sexuell missbraucht wurde, die - genauso wie die anderen Familienmitglieder - angeblich nicht bemerkten, als dieselbe Tochter im Alter von 16 Jahren zum zweiten mal schwanger war und das Kind, was in der häuslichen Küche zur Welt kam, zur Adoption frei gab. Zwei mal dicker Bauch, und das will keiner gemerkt haben?, fragt Schmitt. „Mechthild wurde geopfert.“, sagt eine Freundin im Film. „Vielleicht für die Familienharmonie.“

Jan Schmitts Film ist aufwühlend und mutig, greift er mit seiner Geschichte doch nicht allein die heilige Kuh Familie, sondern auch noch die Kirche an. Es ist ein wichtiger Film, weil er das Schweigen über sexuellen Missbrauch bricht und sich mit den Folgen auseinandersetzt. Darüber hinaus macht er deutlich, wie sehr Familiengeheimnisse, über Generationen weitergegeben, weiterwirken und die betroffenen Menschen schädigen können.
Wem dieser Fall in seiner Heftigkeit unglaubwürdig erscheint, sollte einen Blick in die zahlreichen Akten von TherapeutInnen und Kriminalämtern wagen.

Das 80 Minuten dauernde Debüt des 40jährigen Filmemachers ist auch in seiner Form interessant. In melancholisch sanften Schwarzweiß-Tönen gedreht, beginnt Jan Schmitts filmische Spurensuche in Bremerhaven, der Stadt, der er 11 Jahre vor dem Tod seiner Mutter den Rücken kehrte, beinahe poetisch, um sich dann Schritt für Schritt beinahe zu einem Krimi zu entwickeln. „Eine Hand kommt in meine und jede Hilfe zu spät. Ein Glas auf uns und eins auf die Seele.“, singt Meret Becker den Song „An Land“ von „Element of Crime“. Dazu die Stimme von August Diehl, der den Sprechtext des Sohnes spricht.

In seiner besonderen Erzählweise trifft der Film, trotz persönlicher Betroffenheit, allgemeingültigen Aussagen über das Phänomen „Familiengeheimnisse“, in dem Schuld und Schuldgefühle weitergereicht werden. Damit und mit der Präsenz des Erzählers als einem der Leidträger des Systems, erinnert er an Dokumentarfilme wie Malte Ludins „2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß“ über die totgeschwiegene NS-Vergangenheit seiner Familie oder an Jonathan Caouettes „Tarnation“, die aufwühlende Dokumentation über den verdrängten Wahnsinn seiner Familie. Doch bleibt Jan Schmitts Ton dabei viel leiser, sensibler.

Martina Burandt

Heute Abend um 21 Uhr, im Rahmen des „Heimspiels“ in der Bremer Schauburg, präsentiert vom Filmbüro Bremen. Regisseur und Team sind anwesend.

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